Anspannung

Eine sehr gute Freundin hat mich kürzlich gefragt, ob alles in Ordnung sei. Ob es mir gut gehe. Denn sie hat so ein Gefühl, dass das nicht so sei. Ich schaute sie verwundert an und antwortete „Ja klar. Alles ist gut.“

Auf der Heimfahrt dachte ich kurz über die Frage nach. Nach einer Weile beschloss ich, den Gedanken beiseitezulegen. Der Alltag ging weiter.

Einige Wochen später hatte ich im Urlaub einen Essanfall. 

Ich war nach Island geflogen, um die Polarlichter zu sehen. Es war inzwischen der dritte Tag. Ich hatte zweimal vergebens versucht, die Lichter zu sehen. Ich war übermüdet, weil ich tagsüber remote arbeitete. Ich hatte nichts zu Essen, weil ich noch keine Zeit hatte, einkaufen zu gehen. Und mein Arbeitstag war auch sehr stressig. Um 14 Uhr hatte ich endlich Zeit loszufahren und in meiner Mittagspause Essen zu besorgen. Im Supermarkt angekommen kaufte ich zwei relativ gesunde Fertiggerichte, Milch, ein Baguette, Aioli, je eine Packung Cracker und Schokokekse und ein paar Light-Getränke.

Noch bevor ich „zu Hause“ angekommen war, hatte ich die Packung Schokokekse aufgegessen. Während der 15-minütigen Autofahrt. Ich habe während der Fahrt immer wieder zu den Keksen gegriffen, um meine innere Anspannung zu regulieren. 

Ich versuchte nicht allzu viel darüber nachzudenken und kochte mir noch schnell eines der Fertiggerichte, damit ich nicht gleich direkt wieder Hunger bekam. 

Der Arbeitstag ging genauso stressig weiter. 

Bevor es abends auf Polarlichterjagd ging, legte ich mich nochmal schlafen. Ich hatte die letzten Nächte nur jeweils 4h geschlafen. Eindeutig zu wenig.

Es fiel mir anfänglich schwer runterzukommen, aber irgendwann überkam mich die Müdigkeit und ich schlief ein. 

1,5h später klingelte der Wecker. Es war dunkel und Zeit auf die Jagd zu gehen.

Ich wusste nicht genau, wo ich am besten nach den Lichtern Ausschau halten soll. Also recherchierte ich noch ein wenig. 

In mir wuchs die Anspannung. „Was ist, wenn ich die Lichter nicht sehe?“

Ich verdrängte den Gedanken, packte das Brot, die Aioli, Cracker und Getränke ein und fuhr los. Ich fuhr 50 Minuten Richtung Dunkelheit. Da ich nicht wusste, was einen guten Platz zum Lichter beobachten ausmacht, fuhr ich weiter und weiter und weiter. Am Ende hatte ich fast das ganze Baguette während der Fahrt aufgegessen und in Ailoi geunkt. 

Irgendwann stelle ich mich an einen Platz, wo noch zwei andere Autos standen. Jetzt hieß es warten. 

Der Forecast sah nicht ideal aus, aber auch nicht schlecht. 

Nach einer Weile aß ich das restliche Brot auf und daddelte am Handy. 

Immer noch nichts. 

Es wurde später und später. Ich wurde immer angespannter. 

Um 23 Uhr begann ich die Cracker zu essen. Die gesamte Packung war nur kurze Zeit später aufgefuttert. Besser fühlte ich mich nicht. Ich warte weiter und weiter und weiter. 

Um 1:30 entschied ich mich zu gehen. Ich hatte die Lichter nicht gesehen. Ich war enttäuscht, müde und überfressen. 

Die Fahrt zurück in das Apartment zog sich wie Kaugummi. Ernüchtert legte ich mich ins Bett. Ich hatte nur noch zwei Nächte bis zur Abreise. Ich grübelte und grübelte. Irgendwann schlief ich ein.

Der nächste Tag war ein Samstag. Ich hatte mir vorgenommen, den Golden Circle zu besichtigen. Mit 6h Schlaf zog ich los und schaute mir die isländische Landschaft an. Ich bemerkte währenddessen immer wieder, dass ich gestresst war. Ich wollte mich beeilen, um möglichst viel zu sehen und ging sehr hektisch durch den Nationalpark. Die anderen Leute haben sich bestimmt gefragt, wieso ich es so eilig habe. Als mir das auffiel, dachte ich mir „ich soll das hier doch eigentlich genießen“ 

Dann wurde es etwas besser. Ich merkte immer wieder, wie ich in ein Gefühl der Hektik verfiel. Manchmal gelang es mir gegenzusteuern. 

Nachmittags hatte ich „genug“ gesehen. Ich war müde und brauchte nochmal ein wenig Schlaf bevor ich wieder auf Lichterjagd gehe. Zwischendurch hatte ich mir häufig die Frage gestellt „Verpasse ich etwas, wenn ich mir nicht Reykjavik anschaue? Oder wenn ich nicht zum Vulkan fahre?“ ich beantwortet diese Frage eben genau damit, dass ich den Urlaub aber ja auch genießen soll. Und das heißt entspannt durch den Tag zu kommen.

Ich wollte nochmal 2h schlafen, um für die Nacht fit zu sein. Die Vorhersage war deutlich besser. Ich war allerdings so unruhig, dass ich nicht schlafen konnte. Also fing ich an zu recherchieren. Ich trat Facebook-Gruppen bei und lud mir 3 Apps runter. Ich verstand, wie ich die meteorologischen Daten besser lesen konnte und meinen Chancen die Lichter zu sehen, steigern könnte. 

Alles es dunkel wurde, fuhr ich zum Hafen und wartete. Mit mir noch einige weitere Autos. Ich war nervös. Die Minuten fühlten sich an wie Stunden. 

Und dann kamen sie. 

Ich sah Polarlichter. Das erste Mal in meinem Leben. ich war aufgeregt. Elektrisiert. Begeistert.

Über den Abend merkte ich, wie die Anspannung abfiel. Ich machte später noch eine geführte Tour, die ich am Vortag gebucht hatte. Dort sah ich die Lichter erneut. 

Um 4:30 lag im Bett. 

Ich war erschöpft. Müde und ausgelaugt. 

Es war nicht nur eine körperliche Müdigkeit. Sondern auch eine Geistige. Die letzten Wochen waren anstrengend. Ich war beruflich sehr viel unterwegs. Meine Oma war verstorben. Ich hatte noch keinen Tag richtig getrauert. Ich arbeitete an meinem Buch. Ich hatte einen neuen Job. Und ich versuchte jeden zweiten Tag Sport zu machen.

Ich spürte, wie das alles an mir zerrt.

Und als ich die Polarlichter sag, war es, als würde ein Stück der Last endlich abfallen. Allmählich schlief ich ein. 

Am nächsten Tag hatte ich einen Spa-Tag in der Blauen Lagune geplant. Müde, aber zufrieden machte ich mich auf den Weg. 

Am Anfang wiederholte sich der gleiche Film. Ich wollte alles sehen, ausprobieren und festhalten. Und vergaß dabei, warum ich eigentlich da war. Ich wollte mich entspannen. Ich wollte das Thermalbad genießen. 

Genau das versuchte ich mir Stück für Stück vor Augen zu führen. Ich ging in die Sauna, schrieb einige Postkarten, las in einem Buch. Und allmählich spürte ich, wie ich entspannter wurde.

Wenn ich heute die letzten Tage und Wochen Revue passieren lasse, stelle ich fest, dass ich zwar nur einmal einen Essanfall hatte, aber ich habe definitiv andere (ungesunde) Strategien zur Verdrängung genutzt, um meinen Stress zu regulieren. 

Ich habe übermäßig viel auf Instagram gepostet, um meine Einsamkeit zu übertünchen. 

Ich habe 12h gearbeitet, um mich wichtig auf der Arbeit zu fühlen.

Ich habe meine Freunde und meinen Freund sehr stark beansprucht und indirekt erwartet, dass sie dafür sorgen, dass ich mich besser fühle. 

Meine Bildschirmzeit in der letzten Woche betrug durchschnittlich 7,5h.

Natürlich ist da auch die Zeit für die Navigation von Google Maps und Co mit drin, aber normalerweise ist sie nicht größer als 2-3h am Tag… 

Ohne es zu merken, habe ich das emotionale Essen in andere Dinge umgewandelt. Alles mit dem Ziel, meine Anspannung und innere Unruhe nicht spüren zu müssen. Das Gefühl von Trauer, Wut, Unzulänglichkeit und Zweifel. Das wollte ich überspielen.

Und alles das wird mir jetzt so richtig bewusst, wo ich diese Zeilen schreibe und erkenne, dass ich eine Pause brauche. Dass ich auf mich aufpassen muss. 

Um nicht wieder zu überdrehen. 

Um nicht zu (fr-)essen.

Um nicht auszubrennen.

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