Ich habe die letzten Tage einige Denkanstöße erhalten. Sei es über einen neuen Podcast oder Gespräche mit meiner Tante. Allen lag mit unterschiedlichen Worten und Farben die gleiche Kernaussage bei: „Alles hat seinen Sinn“ oder vielmehr noch „In allem vermeintlich Schlechten gibt es etwas Gutes“.
Diesen Satz habe ich das letzte Mal explizit von meiner Mentorin gehört.
Während ich darüber nachdenke und schreibe, macht sich in mir ein Widerstand breit. Ein Widerstand, diese Weisheit, die ich schon mehrfach für wahr befunden habe, zu akzeptieren. Und ich weiß auch ganz genau warum.
Rückblickend betrachtet ist es immer einfacher anzuerkennen, wie eine harte Zeit zu etwas Gutem führen konnte. Wie zum Beispiel mein Tiefpunkt in Norwegen zur Therapie geführt hat und wie ich die Therapie als einen der wichtigsten Meilensteine in meinem Leben beschreiben würde.
Aber in dem Moment damals in Norwegen, als ich mir eingestanden habe – was ich mehr wie eingestehen musste –, hat es sich wie das Ende der Welt angefühlt. Wie Versagen, wie kaputt und schwach sein.
Natürlich war Hoffnung da, dass es besser wird. Aber dankbar dafür zu sein, dass mir das „passiert“ ist, konnte ich in dem Moment nicht. Ich konnte es ja nicht mal akzeptieren.
Mit mehr Abstand und meinem Reifeprozess habe ich es irgendwann geschafft, meinen Blick auf dieses Kapitel mit wohlwollenderen Augen zu sehen. Ich habe erkannt, dass alles gut so ist, wie es war. Aber eben rückblickend.
Und jetzt befinde ich mich ganz akut wieder in einer Phase meines Lebens, in der ich nicht glücklich war und manchmal noch bin. In der ich mich selbst dafür verurteile, zugenommen zu haben. In der ich nicht anerkennen will, dass das alles schon so okay war. Dass ich eben viel durchgemacht habe in den letzten 12 Monaten. Dass ich eigentlich erstaunlich funktional geblieben bin und alle Bereiche außer dem Essen normal weitergelaufen sind, trotz der Umstände. Ich bin immerhin ausgewandert, hatte eine Trennung zu verkraften und musste mich selbst neu definieren. Und ich habe das alles echt gut gemeistert.
Und während ich das schreibe, steigen Tränen in mir auf. Weil ich es jetzt im Urlaub – mit etwas Ruhe – endlich schaffe, mir auch mal auf die Schulter zu klopfen und ehrlich zu mir zu sagen: „Das habe ich gut gemacht.
Ich bin stolz darauf, wie ich das alles gemeistert habe. Ich bin stolz darauf, dass ich die Stärke hatte, mich zu trennen.
Und ja, ich empfinde das alles, obwohl ich zugenommen habe.
Es ist schon okay.
Es ist vielleicht nicht so, wie ich es mir für mich ausgesucht hätte. Das hätte ich mir und niemand anderem jemals gewünscht. Aber am Ende ist es gut so, wie es jetzt ist.“
Und wenn ich genauer drüber nachdenke, wofür ich ganz konkret jetzt dankbar sein kann und darf, und mir die Frage stelle: „Was ist das Gute daran, dass ich wieder Essanfälle hatte und manchmal habe und daran, dass ich zugenommen habe?“, dann ist mir gestern Abend aufgefallen, dass ich die Essanfälle, die im Juni/Juli angefangen haben und immer stärker wurden, als mein Signal wahrgenommen habe, dass etwas nicht stimmt. Sie waren mein Kompass, der mir angezeigt hat, dass ich vom Kurs abgekommen bin und dass ich in einem Alltag und einer Beziehung lebe, die mich nicht glücklich gemacht hat.
Ich bin so dankbar dafür, dass ich erkannt habe, dass ich eine Veränderung brauchte. Dass ich erkannt habe, dass meine Beziehung nicht (mehr) gut für mich war und dass ich so nicht weitermachen konnte.
Und auch wenn die Essanfälle nach dem Ende der Beziehung nicht aufgehört haben, weiß ich, dass auch das seine Gründe hat. Dass das an all den Ängsten lag, die ich versucht habe, im Keim zu ersticken. War es die richtige Entscheidung, Schluss zu machen? War es richtig auszuwandern? All diese Gedanken und (natürlichen) Zweifel wollte ich aus dem Weg gehen.
Und jetzt zuletzt erkenne ich sogar, dass ich über meine letzte – augenscheinlich erfolgreiche – Diät im Mai, Juni, Juli wieder angefangen habe, meinen ganzen Selbstwert an meine Figur und sportlichen Erfolge zu knüpfen.
Und das hat mir gezeigt, dass ich noch heilen darf. Dass die Dinge, die ich damals in der Therapie besprochen habe, wieder in Vergessenheit geraten sind. Dass ich nicht mehr innegehalten und überlegt habe: „Was will ich eigentlich? Bin ich glücklich? Lebe ich das Leben, das ich möchte, oder lebe ich in einer Illusion?“
Ich habe dem Kampf zwischen meinem inneren Engelchen und Teufelchen nicht mehr zugehört. Ich habe das Teufelchen wachsen und das Engelchen verkümmern lassen.
Aber auch das ist okay.
Hätte ich ein Drehbuch über mein Leben geschrieben, hätte ich es sicher anders aussehen lassen. Ich hätte versucht, mir den ganzen Schmerz und all die Kilos zu ersparen. Aber am Ende schreibt das Leben seine eigene Geschichte, und ich bin jetzt – auch ohne abgenommen zu haben – froh, dass alles so ist, wie es ist.
Und während ich das schreibe, werde ich wieder emotional, weil genau dieser Satz so viele Gefühle in mir auslöst.
Es fühlt sich an wie eine große Last, die von meinen Schultern fällt. Es fühlt sich an, als könnte ich endlich aufhören, gegen die Kilos, gegen die vergangenen Monate und gegen mich selbst anzukämpfen. Es fühlt sich an, als könnte ich endlich loslassen.
Meine Mentorin wäre so stolz auf mich.
Ich bin stolz auf mich.
Stolz auf mich zu sein, trotz oder gerade eben, weil alles so ist, wie es ist, löst so unfassbar viel in mir aus. Ich weiß gar nicht so recht, wohin mit den Tränen und Gedanken.
Aber es sind positive Tränen. Ja, ein Teil von ihnen ist voller Schmerz über die Wunden und das Vergangene, aber der größere Teil ist voller Erleichterung und voller…
Dankbarkeit?
Ich habe sehr lange überlegt, welches Wort beschreibt, was ich sagen will. Dankbarkeit klingt ganz gut, aber nicht ganz perfekt.
Es ist wie, wenn man auf der Arbeit immer das Richtige macht und endlich die Anerkennung bekommt, „die einem zusteht“. Und jetzt fällt der Groschen. Anerkennung. Das Wort habe ich gesucht.
Meine Tränen kommen von dem Gefühl, dass ich endlich anerkenne, was ich geleistet habe. Dass ich endlich sehe, wie sehr ich gewachsen bin, und dass ich das alles endlich nicht mehr kleiner mache, als es ist, weil ich ja zugenommen habe. Als wäre alles das weniger wert, nur weil ich eben mehr wiege als noch letzten Sommer.
Also ja. Ich bin dankbar für die letzten Monate.
Und ja, ich sehe das Gute in den Essanfällen.
Und ja, ich entscheide mich auch in Zukunft dafür, das Gute in den Essanfällen zu sehen. Sie sind mein Kompass, der mir anzeigt, wann ich den Zugang zu mir wieder allmählich verliere.
Und auch wenn ich das Gute in all dem sehe, darf ich trotzdem unzufrieden mit meinem Körper sein. Ich darf daran arbeiten, wieder abzunehmen. Aber ich darf loslassen von dem Zwang und Hass, und ich darf mir die Frage stellen, wie ich mir mein Leben vorstellen würde, wenn ich jetzt schon schlank wäre?
Diese Übung aus einem Podcast habe ich gestern gemacht. Genauer gesagt habe ich mir drei Fragen gestellt:
- Worauf möchte ich NICHT verzichten?
- Worauf kann ich LEICHT verzichten?
- Was ist realistisch?
Diese Fragen haben mir geholfen zu erkennen, dass mein Diätleben häufig sehr anders aussah als das Leben, das ich „verdient hatte“, wenn ich am Ziel war. Und irgendwie ist es dann ja auch ganz klar, dass ich diese Verbote irgendwann durch Essanfälle überkompensiert habe.
Zu 1) Ich möchte nicht auf Brot verzichten. Oder jetzt im Urlaub auf Eis.
Zu 2) Unter der Woche kann ich easy ohne Frühstück leben. Dafür möchte ich am Wochenende unbedingt frühstücken.
Zu 3) Ich möchte nicht ewig viel vorkochen, sondern mittags in der Kantine essen.
Und ich möchte auf keinen Fall auf soziale Events verzichten, weil sie nicht in den Diätplan passen.
Ich könnte noch weiter machen, aber es geht mir mehr um das Prinzip. Ich darf jetzt schon so leben, wie ich will. Auch wenn ich nicht am Ziel bin. Weil am Leben zu sein das Ziel ist, und ein gesunder Körper mir dazu dienen soll, möglichst lange zu leben.
Und natürlich kommen immer wieder Gedanken an Essen auf. Heute morgen im Bett zum Beispiel. Ich dachte an diese Nougat Bits (Cornflakes aus Schokolade, die ich mit Kindheit verbinde). Ich wollte sie zum Frühstück essen, ich weiß aber auch, dass sie eher ungesund sind und ich mich vermutlich danach schlecht fühlen würde. Sie nicht zu essen hat mir aber auch nicht gefallen. Das würde ja wieder eine Einschränkung bedeuten.
Ich habe kurz an die Übung von gestern gedacht und bin zu einem Mittelweg gekommen. Ich starte mit etwas Gesundem wie Rührei oder Quark und mache mir eine kleine Schale Nougat Bits zum Abschluss. So verbiete ich sie mir nicht und fühle mich auch nicht schlecht, weil ich nichts wirklich Nahrhaftes gegessen habe.
Und vermutlich klingt das jetzt ganz logisch und offensichtlich, aber für mich ist es das eben nicht. Rational gesehen schon, aber emotional gesehen ist es eine ganz neue Welt. Eine Welt ohne Verbote, Diäten und Selbsthass.
Und ich bin mir sicher, ich hätte diese Welt nicht (wieder) entdeckt, wenn ich keine Essanfälle bekommen hätte. Ich hätte mir diese Gedanken nicht gemacht, wenn ich es nach 1-2 Monaten wieder geschafft hätte, es zu kontrollieren. Weil es dann vermutlich eher ein Unterdrücken gewesen wäre als ein Aufarbeiten und Hinterfragen, wie ich es jetzt mache.
Und ja, dafür bin ich dankbar.
Das ist das Gute in den Kilos. Und dem Schmerz, den ich ab und zu noch fühle.
